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Parlamentsrede des griechischen Ministerpräsidenten, Alexis Tsipras, anlässlich der Neuformierung des parlamentarischen Ausschusses zur Einforderung der Verpflichtungen Deutschlands gegenüber Griechenland

Tuesday, 10 March 2015

Sehr geehrte Frau Vorsitzende,
meine Damen und Herren,

meine Wortmeldung bei dieser historisch bedeutsamen Sitzung dient nicht nur  einem symbolischem, sondern vor allem einem substantiellen Zweck.

Zunächst und vor allem möchte ich der Opfer des Zweiten Weltkrieges gedenken.
Ich möchte all jener WiderstandsämpferInnen in der ganzen Welt gedenken, die ihr Leben für die Freiheit ihrer Heimatländer geopfert haben,
die ihr Leben gegeben haben, um den Nationalsozialismus zu besiegen, welcher die Völker dieser Erdewie eine giftigerNebel heimgesucht hatte.

Ich melde mich darüber hinaus auch zu Wort, um der griechischen WiderstandskämpferInnen, die ihr Leben dafür gegeben haben, dass unser Land von den Gräueltaten des Nationalsozialismus und den Besatzern befreit wird, zu gedenken.

Dafür, dass wir eine freies und souveränes Heimatland haben.
Manche mögen sagen „Warum mit der Vergangenheit auseinandersetzen, statt in die Zukunft zu schauen“

Doch wie kann ein Land, wie kann ein Volk überhaupt eine Zukunft haben, wenn es seine Geschichte und ihre Freiheitskämpfe nicht ehrt?

Wie kann ein Land vorankommen, wenn es sein kollektives Gedächtnis auslöscht und ohne den gebrachten Opfern und dem Kampf um Freiheit keinerlei Rechnung zu tragen?

Liebe Abgeordneten,
dieses Unrecht liegt nicht allzu lange zurück.
Die Generation, die Besatzung und Widerstand erlebt hat, ist noch am Leben.
Im kollektiven Gedächtnis unseres Landes, sind die Erinnerungen, die Bilder und Laute der Misshandlungen und der Exekutionen in Distomo und Kaisariani, in Kalavryta und in Vianno frisch und lebendig.
Ebenso wie die Verbrechen und die Zerstörung, welche die Wehrmacht überall  in Griechenland und überall in Europa angerichtet hat.
Diese Erinnerungen müssen an die nächsten Generationen weitergegeben werden.
Es ist unsere historische, politische und moralische Pflicht sie zu bewahren.
Und zwar nicht um Misstrauen und Hass zwischen unseren Völkern zu schüren, sondern um sich immer vor Augen zu halten, wie das Gesicht des Nationalsozialismus, wie das Gesicht des Faschismus aussieht.

Damit wir uns jederzeit vor Augen halten, dass anstelle von Überlegenheitswahn und der Selbstwahrnehmung als auserkorene Schicksalsgemeinschaft, die Beziehungen der Völker zueinander von Solidarität, Freundschaft, Zusammenarbeit und Dialog geprägt sein sollten.

Wenn Intoleranz, rassialisierte und soziale Diskriminierung an die Stelle von gegenseitigem Respekt treten, herrscht Krieg. Krieg und Dunkelheit.
Europa hat dieses Dunkel erlebt und es verachtet.
Dies war auch einer der Gründe, aus denen die Völker Europas im Jahre 1957 gemeinsam beschlossen haben, Initiativen in Gang zu bringen, umdie Sirenen des Kriegs für immer verstummen zu lassen.
Dabei vergessen wir nicht, dass auch die  Deutschen unter den Gräueltaten des Nationalsozialismus gelitten haben, welcher nur deshalb hatte erstarken können, weil die deutsche Bevölkerung zuvor erniedrigt und gedemütigt worden war.
Dies stellt selbstverständlich keine Rechtsfertigung dar, wohl aber eine Erklärung.
Dies ist die Lehre des kurzen 20. Jahrhunderts, um mit Eric Hobsbawm zu sprechen.

Nach dem Ersten Weltkrieg setzten sich vor allem Hass und Rachsucht und eine äußerst kurzsichtige Verhaltensweise, die auf Erniedrigung der Besiegten beruhte, auf Demütigung eines gesamten Volkes für die Sünden und politischen Entscheidungen ihrer Führer und die Bevölkerung mit Verelendung strafte.

Diese Kurzsichtigkeit, wurde mit dem Blut junger Menschen auf der ganzen Welt teuer bezahlt. Auch von Deutschland

Die Völker Europas und ihre Anführer müssen die Erinnerung an all das in sich tragen und Schlüsse ziehen, Lehren ziehen aus der zeitgenössischen Geschichte dieses Kontinents. Denn Europa darf nie mehr wieder, Europa darf heute nicht wieder dem selben Fehler anheim fallen.

Liebe Abgeordnete,

nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurden Lehren aus dem Elend gezogen.
Trotz der Verbrechen des Dritten Reiches und der Schergen Hitlers, die die ganze Welt in Schutt und Asche gelegt hatten, trotz des Holocausts, trotz des absoluten Bösen, wurde Deutschland durch eine Fülle von Initiativen und Maßnahmen geholfen.
Und das war richtig.

Nicht zuletzt auch durch Streichung der Schulden, die seit dem ersten Weltkrieg auf den Schultern des Landes lasteten und 1953 auf der Schuldenkonferenz von London vertraglich abgeschrieben wurde, ebenso wie durch die Unsummen, die von Seiten der Alliierten für den Wiederaufbau des Landes zur Verfügung gestellt wurden. Das Londoner Abkommen erkennt dabei zugleich an, dass die aus dem Zweiten Weltkrieg anfallenden Entschädigungszahlungen, abschließend in einem Friedenvertrag zu regeln seien, welcher jedoch bis zum Jahre 1990, aufgrund der Teilung Deutschlands,nicht existierte.

Die Wiedervereinigung hat die juristische und politische Grundlage für die abschließende Lösung des Problems geschaffen. Fortan schwiegen jedoch alle deutschen Regierungen, beriefen sich auf juristische Schlupflöcher, schoben eine Auseinandersetzung mit der Thematik auf und vor sich her.

Sieht so eine moralisch integre Haltung aus, meine Damen und Herren?

Ich sprach von juristischen Schlupflöchern. Weil es sich hier um ein äußerst kritisches Thema handelt, möchte ich genauer erklären, was ich damit meine. Auch damit keine Missverständnisse zurückbleiben.

Deutschland bezieht sich, wenn man sich von offizieller Seite zur Frage der ausstehenden Entschädigungszahlungen aus dem Zweiten Weltkrieg äußert, auf das Beidseitige Abkommen zwischen Griechenland und Deutschland aus dem Jahr 1960.
Damals hat Deutschland, aus eigener Initiative, 115 Millionen Mark an das Königreich Griechenland gezahlt, welches daraufhin anerkannt hat, dass keine weiteren diesbezüglichen Ansprüche gegenüber Deutschland bestehen.
Diese Vereinbarung bezog sich jedoch nicht auf aufgrund angerichteter Zerstörungen zu leistende Reparationszahlungen, sondern hatte Entschädigungszahlungen für die Opfer der NS-Besatzung zum Gegenstand.
Ebenso wenig ging es in dem Abkommen von 1960 um die Zwangsanleihe oder Entschädigungen für Kriegsverbrechen. Es ging nicht um Entschädigungszahlungen
für die nahezu vollständige Zerstörung der Infrastruktur des Landes und die Vernichtung der griechischen Wirtschaft durch Krieg und Besatzung.
Ich bin mir darüber im Klaren, dass es sich bei all dem um hochgradig technische
und hochgradig sensible Themen handelt. Es ist mir in diesem Rahmennicht möglich in darauf weiter einzugehen.
Die notwendige Konkretisierung und technische Sichtung der Thematik unterliegt nicht meinem Aufgabenbereich, sondern ist Sache der Experten, Juristen und Historiker.
Ich versichere der griechischen wie der deutschen Bevölkerung, dass wir uns der Thematik mit der gebotenen Sensibilität, mit Verantwortungsbewusstsein und Aufrichtigkeit und der Bereitschaft zu Verständigung und Dialog nähern werden.
Nicht weniger erwarten wir jedoch auch von Seiten der Bundesregierung. Und zwar aus politischen, historischen, symbolischen aber auch moralischen Gründen.

Meine Damen und Herren,

bezüglich des moralisierenden Tonfalls, der in den letzten Tagen in der öffentlichen Debatte in Europa angeschlagen wird, nehmen wir weder die Rolle des Schülers ein, der in einer herablassend gehaltenen Moralstunde Kopf und Blick senkt, noch buhlen wir um die Stelle des Moralapostels, der mit erhobenem Zeigefinger den vermeintlichen Sünder rügt und ihn zum Buße tun auffordert.
Ganz im Gegenteil. Wir schlagen den Verhandlungsweg ein, den Weg des Dialogs, des gegenseitigen Verständnisses und des Rechts.

Wir üben hier nicht göttliche Justiz, doch treten auch nicht von unseren unerloschenen und berechtigten Forderungen zurück.
Wir geben keine Moralstunde, doch lassen wiruns auch keine geben.
Denn, wissen Sie, in letzter Zeit, aufgrund all dieserprovokativen Äußerungen, die wir aus dem Ausland zu hören bekommen, kommt mir häufig der Abschnitt aus der Bergpredigt Jesu Christi in den Sinn, indem die Rede davon ist, den Splitter im fremden Auge, aber nicht den Balken im eigenen zu sehen.

Meine Damen und Herren Abgeordneten,
Frau Vorsitzende,

zum Abschluss meiner kurzen Wortmeldung möchte ich Ihnen versichern, dass die griechische Regierung unermüdlich daran arbeiten wird, in einem gleichberechtigten Dialog und im Rahmen eines ehrlichen und ehrenhaften Verhandlungsprozesses, zu Lösungen der komplizierten und drängenden Probleme Europas zu finden.
Sie wird hart daran arbeiten, ihre Verpflichtungen einzuhalten und zugleich hart daran arbeiten, dass die nicht geleistete Schuld gegenüber Griechenland und dem griechischen Volk endlich beglichen wird. Ebenso wie wir unsere Verpflichtungen einhalten werden, müssen es auch alle anderen Seiten tun.
Denn Moral kann und darf nicht à la carte und nach Belieben gelten.
Die griechische Regierung wird die Initiative zur Neuformierung und Aufwertung des Parlamentarischen Ausschusses zur Einforderung der Verpflichtungen Deutschlands gegenüber Griechenland mit aller Kraft unterstützen – aufrichtig und substantiell.

Wir sind bereit jede politische und rechtliche Unterstützung zu gewähren, damit die Bemühungen dieses Ausschusses Früchte tragen können und im Rahmen dieser Legislaturperiode zu einem substantiellen Ergebnis - zu einer Lösung - führen können.
Und so endlich diese offene, moralische und materielle Schuld beglichen wird. Nicht nur gegenüber Griechenland sondern gegenüber allen Völkern Europas, die gegen den Nationalsozialismus gekämpft, ihr Blut gelassen und ihn schließlich besiegt haben.

Wir sind es unserer Geschichte schuldig.
Wir sind es unseren WiderstandskämpferInnen schuldig.
Wir sind es den Opfern des Zweiten Weltkrieges schuldig.

Wir sind es Europa und seinen Völkern schuldig, die ein Recht auf Erinnerung haben und auf eine Zukunft ohne jeglichen Totalitarismus.

Ich danke Ihnen.